Schimmelpoths Kûdrun-Fragmente – Bericht und Hintergrund

 Der Förderverein der poettischen Kultur hat diese Tage begonnen, Fragmente aus dem monumentalen Kûdrun-Epos von Sigismund Schimmelpoth der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Charakter dieses, des jüngsten Werkes unseres Dichters jedoch, sowie der erklärungsbedürftige Erhaltungszustand des Epos, lassen den hier vorliegenden erläuternden Hintergrundbericht angebracht erscheinen.

 Wie dem poettischen Literaturpublikum zum Teil bereits bekannt sein mag, hatte sich Herr Schimmelpoth aus privaten Gründen im Februar diesen Jahres recht plötzlich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Anscheinend war er Ende April noch einmal anlässlich des Bochumer Maiabendfestes für einige Stunden zu sehen, galt ansonsten aber quasi für verschollen. Dieser Stand der Dinge beunruhigte insbesondere Herrn Rudibert v. Schwölz, Schimmelpoths langjährigen Mentor und Verleger. Von Schwölz, der als einer der ersten Schimmelpoths Genie erkannt hatte, befürchtete, der Dichter könne das Dichten drangeben wollen – ein nicht vorzustellender Verlust für die Weltliteratur. Desillusionierung, noch mehr als amuröse Ablenkung, so v. Schwölz, sei der Hauptgrund für Schimmelpoths stetig sinkende Versproduktion: Schimmelpoth sei die ihm gebührende öffentliche Anerkennung viel zu lange versagt geblieben, und das müsse sich nun ändern. In diesem Sinne unterbreitete er dem Literaturreferat des Fördervereins der poettischen Kultur den dringlichen Vorschlag, Herrn Schimmelpoth endlich öffentlich zu ehren. Was Herrn v. Schwölz indes nicht bekannt war, war, dass eine solche öffentliche Ehrung Sigismund Schimmelpoths bereits seit geraumer Zeit geplant gewesen war. Mehmet Günç, Dichterkollege und privat einer der engsten Freunde Schimmelpoths, hatte bereits alles in die Wege geleitet: Am Vormittag des 19. Juni 2007 sollte mit einer würdigen Zeremonie im kleinen Rahmen eine Skulptur Sigismund Schimmelpoths aus der Hand von Joost van den Strünkede im Heizungskeller des Gelsenkirchener Rathauses enthüllt werden. Natascha Farouk-Griegoleit hatte eigens zu diesem Anlass eine Sonate komponiert. Ein weiterer enger Freund Schimmelpoths, Balthasar Grünspan, mit dem er zuletzt das Maiabendfest besucht hatte, würde zum wiederholten Male Sigismund Schimmelpoth in Versen huldigen. Alles war vorbereitet, stand jedoch unter dem Zeichen strengster Geheimhaltung. Nicht etwa um Herrn Schimmelpoth selbst zu überraschen, im Gegenteil, der saß schon seit Wochen Herrn van den Strünkede ungefragt Modell, nein, die Geheimhaltung war nötig weil Herr Schimmelpoth höchstpersönlich die Abwesenheit Rudiberts von Schwölz während der Zeremonie zur Bedingung seiner Teilnahme gemacht hatte. Die Sache ist nämlich so, so bedeutend Herrn von Schwölzens Rolle für die literarische Karriere Sigismund Schimmelpoths auch war, mit dem persönlichen Verhältnis zwischen den beiden Männern stand es nicht zum besten. Aus Schimmelpoths Perspektive war die Zusammenarbeit von Anfang an erzwungen (vgl. dazu meine biographische Abhandlung „Sigismund Schimmelpoth – Dichter wider Willen“): Rudibert v. Schwölz hatte Schimmelpoths finanzielle Notlage ausgenutzt, um ihn quasi zum Dichten zu nötigen.
 Da Herr Schimmelpoth selbst sich ausbedungen hatte, dass Herr v. Schwölz unter keinen Umständen bei der geplanten feierlichen Einweihung der Sigismund-Schimmelpoth-Skulptur zugegen sein dürfe, war jener also nicht darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass eine solche Zeremonie geplant war. Selbst der recht ungewöhnliche Ort für die Feierlichkeiten und Aufstellung der Skulptur war mit Bedachtung und im Hinblick auf größtmögliche Geheimhaltung gewählt worden. Fräulein Renate Laczkowski-Struntzmann, die als Aushilfssekretärin im Literaturreferat des Fördervereins der poettischen Kultur die sich auf Mutterschaftsurlaub befindliche Frau Minna Basel vetrat, war sich ihrerseits über die Zusammenhänge nicht recht im Klaren, und als Herr v. Schwölz ihr seinen Vorschlag zur Ehrung Sigismund Schimmelpoths unterbreitete, sagte sie, so wörtlich: „Ja watten watten watten, Herr Schwölz du alten Pannekopp, nóch ne Ehrung? Dem weihnse doch diesen Dinnstach schon ne Skulptur ein, dat muss doch wohl ersma genuch sein, odda nich?“
 Somit war, bildlich gesprochen, die Kacke am Dampfen. Um es kurz zu machen, Rudibert v. Schwölz verschaffte sich an besagtem Tag gewaltsam Zugang zur Ehrungszeremonie im Heizungskeller des Rathauses und began dort das, was Herrn Schimmelpoths Verlobte, Fräulein Magda Spichalski, hinterher als „einen fürchterlichen Hallas“ bezeichnete. Er sprang Herrn Schimmelpoth zunächst an die Gurgel, als er jedoch ein mehrere hundert Seiten umfassendes Manuskript in seinen Händen bemerkte an dieses. Es handelte sich bei diesem Manuskript um einen Entwurf zu einem umfangreichen Versepos unter dem Arbeitstitel „Kûdrun“. Von Schwölz gegenüber jedoch bestand Herr Schimmelpoth auf Anfrage auf der Behauptung, es handle sich lediglich um seinen Einkaufszettel. Von Schwölz, der sich offensichtlich einbildete verlegerischen Anspruch auf alles was aus Schimmelpoths Feder fließt, egal ob Epos oder Einkaufszettel, zu haben, ließ nicht locker. Sigismund Schimmelpoth auch nicht. Kurzum, die Tatsache, dass das Epos heute nur noch in Fragmenten erhalten ist, geht auf eben diesen „Hallas“ zurück.

 Inzwischen hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Rudbert v. Schwölz sitzt zur Zeit in der Sozialtherapeutischen Strafvollzugsanstalt Gelsenkirchen ein. Als resozialisierende Beschäftigung ist er dort mit der Rekonstruktion des gesamten Kûdrun-Epos betraut. Kritiker geben zu bedenken, dass Von Schwölzens umfangreiche Emendationen oft ziemlich spekulativ sind. Dem aufgeweckten Leser werden jedoch zwei grundlegende Kriterien hilfreich sein:

1. Die in gespitzten Klammern {} eingefügten Worte und Wortteile sind lediglich Konjekturen von Von Schwölz, nicht unbedingt Worte des Dichters selbst.

2. Die Richtigkeit der Konjekturen lässt sich in vielen Fällen mithilfe der strengen Form überprüfen. Diese Form ist, soweit bekannt, durch das gesamte Epos hindurch durchgehalten, und soll hier anhand des sog. Schüssel-Fragments veranschaulicht werden:

[a]  [-‚-‚-‚-‚-‚-]
b  [‚-‚-]‘-‚
a  -‚-‚-‚-‚-
b ‚-‚-‚[-]‘-

a -‚-‚-‚-‚-‚-
c -‚-‚-‚-‚
a -‚-‚-‚-‚-‚-
c -‚-‚-‚-‚

d -‚-‚-‚-‚-‚-
c -‚-‚-[‚-]‘
d -‚-‚-‚-‚-‚-
c -‚-‚-‚-‚

d -‚-‚-‚-‚-‚-
e -‚-‚-‚-‚
d -‚-‚-‚-‚-‚-
e -‚-‚-‚-‚

f -‚-‚-‚-‚-‚-
e -‚-‚-‚-‚
f -‚-‚-‚-‚-‚-
e -‚-‚-‚-[‚]

f -‚-‚-‚-‚-‚-
g -‚-‚-‚-‚
f -‚-‚-‚-‚-‚-
g -‚-‚-[‚-‚]

 

Nach den traumatischen Ereignissen im Heizungskeller des Gelsenkirchener Rathauses ist Sigismund Schimmelpoth übrigens wieder untergetaucht. Wer könnte es ihm verdenken.