Der Genitiv von Arsch

In dieser Kolumne werden Aspekte der Kultur des Ruhrgebiets unter die Lupe genommen. Das hat uns gerade noch gefehlt. Was Sie hier lesen, sollte Sie nachdenklich stimmen. Irgendjemand muß ja das Lämpchen weitertragen; denn ihm brennt bereits sehr trübe.

Der Genitiv von Arsch
– Brauchtumspflege im nördlichen Ruhrgebiet –

Was ja nur sehr wenige Leute wissen ist, daß der Genitiv von Arsch zu sein einst ein begehrtes und angesehenes Ehrenamt in der freien Reichsstadt Eickel war. Die aus dem frühen 14. Jahrhundert stammende Wasserburg Schloß Stinkede am Rande des eickligen Stadtteils Arsch war der Ort eines alljährlichen Rituals, zu dem sich die wohlhabenden Bürger der ganzen Stadt einfanden. Unter sich losten sie mit einem speziellen Kartenspiel aus, wer in dem betreffenden Jahr Genitiv (von mittelniederdeutsch „gê inne tif“) sein solle: Derjenige, welcher die sogenannte „Arschkarte“ zog, wurde anschließend unter großem Hallo und begleitet von viel Musik, Tanz und Gesang in den Burggraben eingetunkt.
Genitiv von Arsch zu sein kann im Laufe der Jahrhunderte, trotz der damit verbundenen großen Ehre, nicht immer ein ganz ungetrübtes Vergnügen gewesen sein. Als das brackige Wasser des eickligen Burggrabens im Laufe der Zeit immer mehr eindickte, kam im Volksmund dafür die Bezeichnung „Eickelbecke“ auf. Verschiedene Varianten dieser Bezeichnung sind noch heute als Familiennamen verbreitet und deuten auf Abstammung aus dem arschigen Hochadel hin.
Anfang des 17. Jahrhunderts wurde die Burg wiederholt von marodierenden Räuberbanden unter der Leitung des berüchtigten Dullen Joest van Strünkede, der seine eigene Wasserburg viel toller fand, attackiert, und schließlich vollends geschleift, und der Burggraben zugeschüttet. Die Eickler jedoch, die das alljährliche Volksfest um das Döppen des Genitivs (oder wie man in Eickel sagt: dem Genitiv sein Döppen) inzwischen nicht mehr missen mochten, verlegten die Zeremonie kurzerhand ins eicklige Rathaus, wo zu diesem Zwecke eigens eine große Holzwanne bereitgestellt wurde. Von dieser Wanne übrigens erhielt die Stadt auch den verbreiteten Beinamen „Wanne-Eickel“.
Es ist überliefert, daß die versammelte Menge während der Genitiv ins kalte Wasser eingetaucht wurde im Chor auszurufen pflegte: „Trifft he gen Grund?“; worauf der Genitiv, sobald er seinen Kopf wieder über Wasser hatte und Luft schnappen konnte, traditionell erwiderte: „Aua, hau mein‘ Kopp do nich au’m Boden, wat meinze wenn dat einer mit dir machen würde.“ Auf dieses kleine Frage-und Antwort-Ritual geht wahrscheinlich die Sitte zurück, auch heute noch nach einem „trifftigen Grund“ zu fragen wenn jemand kopfüber in kaltes Wasser eingetaucht wird.
Während der großen Ölkrise Anfang der 70iger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde leider die große Holzwanne im eickligen Rathaus als Brennholz verfeuert. Von diesem Verlust konnte sich der Jahrhunderte alte Brauch nie mehr richtig erholen. Für ein paar Jahre wurden alternative Behältnisse für das traditionelle Genitiv-Eintauchen ausprobiert, aber keines davon war so recht zufriedenstellend. Die untenstehende Fotografie aus dem Jahre 1976 zeigt Bezirksbürgermeister Herribert Schummigel beim Döppen des Genitivs von Arsch, Herrn Günter Lewandowski. Dies sollte das letzte Mal sein, daß die Zeremonie begangen wurde.

gedoeppt

Der eicklige Stadtteil Arsch wurde bei der Eingemeindung nach Herne aus Pietätsgründen in „Crange“ umbenannt. Der schöne Brauch des Genitivs ist inzwischen leider nahezu vollständig in Vergessenheit geraten.